Die Münchner Tafel in Zeiten der Pandemie

„Corona macht nicht satt“
Eine Fotoreportage von Stefan Hellweger, erschienen in der Zeitschrift „Soul of Street“ , Ausgabe #29.

„Hey, wisst ihr wie viel zwei Meter sind? Oder wohnt ihr in einem Haushalt?“- Kopfnicken – „Gut, dann dürft ihr weiter schmusen.“

Axel Schweiger fährt fort mit der Einweisung der freiwilligen Helfer bei der Münchner Tafel an diesem Tag. In Zeiten des Coronavirus muss er neben seinen vielfältigen anderen Aufgaben als Leiter der Ausgabestelle an der Großmarkthalle auch darauf achten, dass Ehrenamtliche, Angestellte und Gäste mindestens zwei Meter Abstand von einender halten. Im Gegensatz zu den von mir regelmäßig frequentierten Supermärkten, wurde die Tafel in den vergangenen Tagen in Bezug auf die Einhaltung der behördlichen Auflagen täglich kontrolliert. Bei der Durchsetzung dieser Schutzmaßnahmen hilft Herrn Schweiger nicht nur ein exakt zwei Meter langer Zollstock, sondern auch eine bewundernswerte Kombination aus bestimmtem Auftreten, Empathie, absolutem Gerechtigkeitssinn, Geduld und einer aufrichtigen Form der Freundlichkeit, die jedoch durchblicken lässt, dass er hier das letzte Wort hat.

In normalen Zeiten versorgt die Münchner Tafel ca. 20 000 bedürftige Menschen an 27 über dem Stadtgebiet verteilten Ausgabestellen. In diesen speziellen Zeiten wird die gesamte Arbeitskraft und Logistik an der Hauptausgabestelle gebündelt, die dafür an sechs Tagen in der Woche geöffnet hat. Mit dem Beginn der Corona-Krise hat sich das Altersgefüge bei den ehrenamtlichen Helfern in kürzester Zeit drastisch verändert .Wird die Tafel üblicherweise zu großen Teilen von Menschen getragen, die ihr Arbeitsleben bereits hinter sich haben, sind es plötzlich viele junge Menschen, die ihre durch Corona gewonnene bzw. erzwungene Freizeit dem Dienst an ihren Mitbürgern widmen. Wie eben z.B. das zu Beginn dieses Textes erwähnte junge Pärchen, das an diesem Tag zum ersten mal mithelfen wird Tische aufzubauen, Kisten zu schleppen, aufzuräumen, Lebensmittel auszugeben und nicht zuletzt den Gästen auch mal kurz zuzuhören. Die Tafel ist nicht nur für die Versorgung mit Lebensmitteln wichtig, sondern stellt für nicht wenige, vor allem ältere Gäste auch eine wichtige soziale Kontaktstelle dar. Dadurch, dass hier wirklich jede/r bedingungslos gleich behandelt wird, fällt bei vielen Gästen die im Alltag bestehende Befürchtung in Gesprächen als bedürftig=minderwertig abgestempelt zu werden.

Entgegen der Vermutung vieler die zum ersten mal bei der Tafel helfen, ist die Stimmung weder gedrückt oder traurig sondern viel im Gegenteil von Freude, Dankbarkeit und guter Laune geprägt. Und sollte sich, Ausnahmen bestätigen die Regel, doch mal ein Gast im Ton vergreifen, so regelt dies eine dann immer noch höfliche aber sehr bestimmte Intervention von Herrn Schweiger. Heute ist die Stimmung besonders gut. Das Wetter ist gut, es ist kurz vor Ostern. Eine kleine Gruppe junger Ehrenamtlicher hat eine Bluetooth-Box dabei, aus der vor dem Tisch mit den Molkereiprodukten Musik von Evergreens bis Punkrock ertönt. Zwischendurch sieht man nicht nur bei den Helfern Tanzbewegungen. Kurz vor dem Eintreffen der ersten Gäste fährt ein großer SUV bedruckt mit dem Schriftzug eines großen Münchner Warenhauses auf das Gelände. Ausgeladen werden kistenweise Schokoladenosterhasen und weitere Ostersüßigkeiten. Dies sind Produkte welche in bedürftigen Familien häufig zuerst dem Rotstift zum Opfer fallen. Dementsprechend groß ist vor allem bei Kindern die Freude hierüber.

Alle Gäste bei der Tafel erhalten ihre Grundsicherung vom Staat, das heißt theoretisch müsste keiner dieser Menschen hungern. Jeder dieser Menschen lebt unter dem Existenzminimum, d.h für eine Einzelperson bleiben nach Abzug von Miete und Nebenkosten noch ca. 420 Euro für jeglichen Bedarf des täglichen Lebens wie Hygieneprodukte, Internet, Handy, öffentlicher Nahverkehr,… und eben Lebensmittel. Also was kommt nach dem gestillten Hunger? Die finanziellen Möglichkeiten zur Teilnahme am sozialen Leben, speziell in einer hochpreisigen Stadt wie München, fehlt dann häufig. Diese kleinen Spielräume kann die Tafel im besten Fall ein kleines bisschen erweitern und die Dankbarkeit gegenüber den Helfern, z.B. dem jungen Kuschelpärchen, Herrn Schweiger und den Spendern dafür ist bei jedem Besuch dieser wichtigen Institution nahezu greifbar in der Luft spürbar.

Zum Ende dieses Artikels möchte ich allen Verantwortlichen, Ehrenamtlichen, Angestellten und Gästen der Münchner Tafel meinen Dank aussprechen für ihr Vertrauen in mich, so dass ich völlig frei und unbesorgt mit meiner Kamera in ihre Arbeit eintauchen durfte. Seit dem ersten fotodokumentarischen Projekt mit dem Munich Street Collective anlässlich des 25jährigen Jubiläums der Münchner Tafel, war dies bereits die zweite Serie, die ich mit diesen wunderbaren Menschen fotografieren durfte. Ein herzliches Dankeschön hierfür! 

Stefan Hellweger